Sunny

Weshalb es sich lohnt, die Grundlagen der Harmonielehre systematisch zu erarbeiten und welcher Weg mir dabei am besten entspricht.

Jazzsongs nicht nur nachspielen zu können, sondern auch harmonisch zu verstehen, ist ein Bedürfnis, das sich früher oder später unweigerlich meldet. Beim Durchblättern der Unterlagen aus Gitarren- und Klavierstunden fand ich dazu in den Notenblättern zahlreiche Hinweise und Notizen, unter anderem zu etwas spezielleren Akkorden oder Kadenzen (z.B. II, V, I oder I, V, VI, IV). Aber wie einige Zeit nach einer Reise durch ein unbekanntes Land, blieben mir davon höchstens ein paar zunehmend verblassende Begriffe und Eindrücke in Erinnerung. Ein Bild des Ganzen hatte ich nicht.

Auch Bücher zur Harmonielehre halfen mir nicht wirklich, das Thema zu erschliessen, werden diese Lehrmittel doch nach dem meist sehr einfachen Einstieg mit Erklärungen zu den Noten, Taktarten und Tonarten rasch sehr komplex, worauf mein Hirn nur noch Abwehr- und Fluchtsignale sendet. Also fragte ich den Bass- oder Gitarren-Lehrer. Manchmal war das Ergebnis ein Aha-Erlebnis, manchmal war die Verwirrung grösser als zuvor, wenn ich auch noch so gute und differenzierte Erklärungen nicht in ein Gesamtbild einordnen konnte.

Oder es irritierte mich ein noch unbekannter, vom Lehrer als verständlich vorausgesetzter Begriff. Hallo, was ist eine Tritonus-Substitution? Ich wollte darüber aber nicht lange diskutieren. Schliesslich war ich ja zum Spielen in die Stunde gekommen.

Zufällig entdeckte ich in der Bassstunde bei Housi im Büchergestell die «Neue Jazz-Harmonielehre» von Frank Sikora. Er zeigt einen Zugang zum Stoff nach dem Prinzip «Verstehen, Hören, Spielen». Entsprechend ist das Buch aufgeteilt. Um die drei Themen parallel anzugehen, begann ich die Lektüre an drei verschiedenen Stellen. Ich blieb wirklich dran, las die Texte ganz lang sam, fasste zusammen, wiederholte schwierige Passagen, hörte die Beispiele, versuchte die Übungen zu singen und zu spielen. Barbara ging zudem sofort auf den Vorschlag ein, in den Singstunden die Übungen aus dem Buch durchzuarbeiten.

Langsam konnte ich mir so ein Grundwissen erarbeiten. Trotzdem, Bücher allein reichen nicht. Ich bräuchte individuelle Erklärungen, oft nur einen Ratschlag, manchmal praktische Anwendungsbeispiele, um das neue Wissen besser mit dem bisherigen Wissen verknüpfen und beim Improvisieren anwenden zu können. Regelmässig schwirrte ich darum im Internet herum und googelte nach Kursen zur Harmonielehre. Bei der Swiss Jazz School in Bern gibt es ein Angebot im Rahmen des Programms «SEMIPRO», das sich an talentierte, ambitionierte und bereits fortgeschrittene Musizierende richtet. Das traute ich mir nicht zu, ebenso wenig das Modul ETR (Eartraining, Theorie, Rhythmik), das inhaltlich aber meinen Bedürfnissen ziemlich genau entspräche.

Schliesslich landete ich auf der Website der Jazzschule Berlin. Sie bietet neben Lehrgängen im Präsenzunterricht auch Fernstudien an: einen Kurs zum Blues, einen zum modalen Spiel und einen zweijährigen Fernlehrgang «Grundkurs Jazzstandards» mit persönlicher Betreuung. Ermutigt vom Ergebnis des Online-Tests zum Vorwissen, schrieb ich mich für den Kurs «Play the Blues» ein, obschon ich natürlich den zweijährigen Grundkurs im Visier hatte. Doch wollte ich zuerst einmal feststellen, wie ein Musik-Fernstudium abläuft.

Beim Blues-Kurs erhalten die Teilnehmenden jeweils eine Lektion per E-Mail, welche einen Link zur nächsten Lektion enthält, den man erst anklicken soll, wenn der Stoff verarbeitet ist. Das Lerntempo kann somit individuell gestaltet werden. Erstaunlich war die persönliche Betreuung. Schon kurze Zeit nach dem Erhalt der Unterlagen erkundigte sich der Kursleiter nach den ersten Eindrücken und wie ich mit dem Material zurechtkam. Ich erhielt auch umgehend die Notenbeispiele mit Bassschlüssel, als ich erwähnte, dass ich Kontrabass spiele. Ich liess mir Zeit und lernte die laufend anspruchsvoller werdenden Bluesphrasen kennen.

Eigentlich wäre das genügend Stoff, um lange Zeit zu üben. Aber die Neugier liess mir keine Ruhe. Ich wollte nicht mehr länger mit dem Grundkurs Improvisation zuwarten. Nach der Anmeldung erhielt ich mit der Bestätigung den ersten der 24 Lehrbriefe und die Informationen mit dem Namen meines persönlichen Betreuers. Die Lehrbriefe können in mehrere Lektionen unterteilt sein, die jeweils mit einem Hörbeispiel beginnen. Die Aufgabe besteht darin, bei einem Playback die Akkorde herauszuhören und zum Beispiel festzustellen, wo sich die Tonika, die Subdominante oder die Dominante befinden. Bei einigen Lektionen sind das spezifische Akkordfolgen, bei anderen ganze Songs. Oft wird man aufgefordert, aufzuschreiben was einem auffällt, wie sich Akkordfolgen unterscheiden oder wohin ein bestimmter Akkord führen könnte. Die Theorie muss selbst erarbeitet werden.

Eine Hauptaufgabe jeder Lektion besteht darin, zum Playback zu improvisieren, davon eine Tonaufnahme zu erstellen und diese zusammen mit den Lösungen zu den schriftlichen Aufgaben einzusenden. Ich hatte mir von Anfang an vorgenommen, die Hausaufgaben jeweils am 18. oder 19. Tag des Monats einzusenden.

Die Tonaufnahme war anfänglich eine grössere Herausforderung. Das Digitalpiano, die Gitarre, der E-Bass oder ein Mikrophon können via Midi-Schnittstelle an den Computer angeschlossen und die Aufnahmen mit einem Programm wie Garage Band oder Logic pro bearbeitet werden. Es ist aber gar nicht so einfach, die passenden Einstellungen der verschiedenen Parameter der Instrumente und der Schnittstelle zu finden. Noch mehr Nerven kostet es allerdings, eine drei bis vier Minuten dauernde, zusammenhängende Improvisation flüssig zu spielen und festzuhalten. Ich hatte schon oft gehört, dass man sich beim Üben aufnehmen sollte. Aber eine Aufnahme als Hausaufgabe? Ich musste lernen, die Aufnahme trotz vieler Schnitzer einzusenden. Es ging ja nicht um eine CD-Aufnahme.

Weil ich mit dem Kontrabass noch kaum Erfahrungen mit Improvisieren hatte, verwendete ich dazu in den ersten Lektionen das Piano. Nach der ersten mit dem Bass eingespielten Improvisation erhielt ich dazu eine positive Rückmeldung, aber auch den Hinweis, ich müsse schon noch an der Intonation feilen. Mit dieser zusätzlichen Herausforderung wollte ich mich nicht auch belasten und wechselte schliesslich auf die Gitarre, womit ich mich seither wohl fühle.

Trotzdem muss das Aufatmen nach dem Einsenden der Hausaufgaben jeweils bis nach Berlin zu hören sein. Versprochen ist eine Rückmeldung bis spätestens nach Ablauf einer Woche. Bis jetzt antwortete mein persönlicher Betreuer, Wolfgang Obert, meist binnen Stunden oder höchstens einmal eineinhalb Tage später. Meist erhalte ich einen mehrseitigen Kommentar, der neben den Lösungen weiterführende theoretische Erklärungen beinhaltet. Die Lektion ist also erst abgeschlossen, wenn die Rückmeldungen verarbeitet sind. Erst dann macht es Sinn, sich auf den Stoff des neuen Lehrbriefs einzulassen. Die Improvisationen sind immer sehr motivierend kommentiert und mit vielen Hinweisen für Varianten sowie Tonbeispielen ergänzt. Fazit: Ich fühle mich echt gefordert und gefördert. Einfach perfekt.

Ganz ohne Vorkenntnisse ist die Schwelle für den Einstieg in den Grundkurs Improvisation zu hoch. Des halb bietet die Jazzschule Berlin seit Ende 2018 einen 28-tägigen Online-Kurs an, in Anlehnung an das Kinderbuch «Häschen-Schule» von Albert Sixtus «JäzzchenSchule» genannt. Marie-José war unter den ersten Teilnehmenden. Ich durfte ihr über die Schultern schauen und die jeweils ungefähr 15 Minuten dauernden täglichen Lektionen mitmachen. Neben den unentbehrlichen Grundlagen (Intervalle, Tonleitern, Akkorde, Kadenzen etc.) gibt es schon in der ersten Lektion eine Hör-, Singund Spielübung mit der A-Moll Pentatonik. Damit kann man dann schon in der dritten Lektion zu Bobby Hebbs «Sunny» erste Improvisationen wagen. Die Lernkurve führt schön gleichmässig ansteigend bis zur Lektion 27, wo man locker einen Leitton hört, die harmonische Moll-Tonleiter versteht und sich auch nicht mehr von einer in der Tonleiter fremden Zwischendominante verwirren lässt.

Ich bin begeistert vom Konzept und der Präsentation des Kurses. Er unterscheidet sich wohltuend vom unüberschaubaren Online-Angebot auf YouTube. Kein «Hallo, ich bin der Berndt…», der in einem unaufgeräumten Raum drauflos schwatzt, sich in Details verliert, im schlimmsten Fall lustige Sprüche klopft und dank seiner Methode Wunder verspricht, sofern man die restlichen Kurse bucht. Mit der «Jäzzchen-Schule» lässt sich eine solide Grundlage bauen, die den Zugang zu den anderen Fernkursen wie auch zum Selbststudium mit Fachbüchern erleichtert und einen in Workshops, Klavierstunden oder einfach im Spiel mit anderen die Zusammenhänge besser verstehen lässt.

Mit dem Grundkurs bin ich mittlerweile in der Hälfte angelangt. Die Lernkurve ist immer noch fördernd und auch sehr fordernd. In der Zwischenzeit erscheinen mir die teilweise kniffligen theoretischen Aufgaben fast schwieriger zu lösen als die Improvisationen. Ich interpretiere das als gutes Zeichen.

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