Schluss: Young At Heart

Weshalb es sich trotz Lampenfieber und entsprechenden Nebenerscheinungen lohnt, aufzutreten und für andere Menschen zu musizieren.

Seine Gefühle – auf sozialverträgliche Weise – ausleben zu können und mit anderen Musizierenden nach dem gemeinsamen Ton zu suchen, sind für mich zwei Gründe zu singen oder ein Instrument spielen zu lernen. Ein dritter Grund wäre, Menschen mit Musik zu erfreuen, egal ob damit einfach Lebensfreude, das Bedürfnis nach Anerkennung oder die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, verbunden sind.

«Ja schon, aber weshalb tue ich mir das an?», lautet beim Gang zur Bühne die wiederkehrende Lampenfieber-Gegenfrage, wenn es im Magen drückt und zieht, die Finger steif werden, wenn ich mitten im Hochsommer friere, den Notenständer fallen lasse oder mich plötzlich nicht mehr an den Anfang des Songs erinnere.

Muss ich Sitzungen leiten, unterrichten, Tagungen moderieren oder etwas präsentieren, bin ich in den ersten Minuten auch etwas angespannt. Ich versuche dann mit dem Publikum Kontakt aufzunehmen. Spüre ich eine Reaktion, werde ich ruhig und locker. Kunstpausen oder Versprecher fallen in solchen Situationen kaum auf. Bei einem musikalischen Vortrag hingegen werden verpasste oder falsche Töne von den meisten sofort bemerkt. Aufholen oder Nachbessern ist unmöglich. Die fehlende Qualität der amateurhaften Vorstellung ist rasch und leicht zu erkennen. Unsere Ohren sind sich professionell gespielte Musik gewohnt. Das ist mir sehr bewusst, wenn ich die Treppe zur Bühne hochsteige.

Sitze ich auf dem Viehmarkt in Langnau selber im Publikum, stört es mich nicht im geringsten, wenn die Interpretation eines Songs nicht den bekannten Vorbildern entspricht. Ich weiss ja aus eigener Erfahrung, dass sich die Bands im Workshop lediglich eine Stunde lang vorbereiten konnten. Ich könnte also davon ausgehen, dies ergehe den Zuhörenden ähnlich, wenn ich am nächsten Abend auf der Bühne stehe. Aber dann ist alles vergessen.

Sie müssten aufhören, vor Publikum zu spielen, wenn sie einmal keine Nervosität mehr spürten. Das habe ich von verschiedenen Lehrenden und Profis gehört, die ihren Lebensunterhalt mit der Musik verdienen. So sehr ich sie alle auf der Bühne bewundere und wie gerne ich nur ansatzweise so gut wie sie spielen möchte, ich möchte nicht tauschen. Diesen Druck über lange Jahre immer wieder aufs Neue zu erleben, würde ich nicht aushalten, von den ganzen Begleitumständen des Musikbetriebs ganz abgesehen.

Sich als Laie auf die Bühne zu wagen und vor anderen zu spielen, mag also extravertiert erscheinen. Es ist aber in erster Linie auch eine Motivation, Neues zu entdecken und zu lernen. Deshalb führt Barbara Schülerkonzerte durch, ermuntert Housi zur Teilnahme an Workshops. Es stimmt schon: Im Wissen, einen Song nächstens vor Publikum singen oder spielen zu sollen, übe ich konzentrierter. Wenn nötig und möglich versuche ich den Text und die Akkordwechsel auswendig zu lernen.

Mit jedem Auftritt gewinne ich neue Erkenntnisse, was beim nächsten Mal besser zu machen wäre. Dass ich aus Fehlern lernen kann, trifft hier in ganz besonderem Masse zu. Und ja, ich freue mich natürlich auch sehr über anerkennende Worte nach einer gelungenen Darbietung. Dass Barbara und Housi am Konzert zum Semesterschluss der Jazzschule im Publikum sassen und sich mit ihrem Schüler über den Auftritt und das erste öffentlich vorgetragene Basssolo freuten, bedeutete mir sehr viel.

Es macht mich auch glücklich, bei einem Auftritt mit dem Chor des Besuchsdienst Bern ein Lied solo zu singen und mich dabei vom Chor getragen zu fühlen. Springt dann der Funke ins Publikum wie damals, als ich mit einem Rollator vor der Bühne herumkurvend «Young At Heart» sang und die Leute im Takt zu klatschen begannen, werden Märchen tatsächlich wahr, wie es in diesem für älterwerdende Menschen richtungsweisenden Lied heisst.

Gelegentlich erlebe ich im Theater und an Konzerten, dass Künstlerinnen und Künstler das Gefühl vermitteln, ihre Darbietung sei eine Premiere und nur den gerade anwesenden Menschen gewidmet. In solchen Augenblicken vergesse ich alles rundherum und geniesse es, dass Menschen anderen mit ihrer Musik Freude bereiten. Damit auch mir dies gelegentlich gelingt, versuche ich so lange als möglich «Young At Heart» zu bleiben.

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