Matilda

Welche Auffrischung auch sehr erfahrenen Jazzmusikerinnen und -musikern immer wieder guttun kann.

Sonntagmorgen. Nach dem Höhepunkt des Jazzworkshops Interlaken mit dem Konzert am späten Samstagabend fand sich unsere Band nochmals zu einer Probe im Restaurant der Curlinghalle ein. Wir packten die Instrumente aus und waren gespannt, was uns nun erwartete. Ob wohl noch eine Art De-Briefing stattfindet, frage ich mich. Obschon unser Auftritt gar nicht so übel war, gäbe es natürlich immer noch viel zu verbessern.

Doch darauf ging Stephan Urwyler, der uns an diesem Morgen coachte, gar nicht ein. Er sass mit der flach auf den Knien liegenden Gitarre da, schaute in die Runde und sagt dann: «Guten Morgen Leute, nun legt mal Eure Noten weg. Ich spiele Euch eine Melodie, hört einfach zu und versucht mitzuspielen.» Nach den ersten Takten von

«Matilda» stellten wir fest, der berühmte Song von Harry Belafonte war gar nicht so einfach zu spielen. Die Tonart und die Akkorde fanden wir bald einmal heraus. Auch die Form konnte man sich gut merken. Aber der Rhythmus war anspruchsvoll. Auch ich hatte damit meine liebe Mühe, so sehr, dass ich gar nicht mehr wahrnahm, was die anderen spielten. Statt locker zu bleiben, gut zuzuhören und langsam in den Rhythmus hineinzukommen, versteiften sich meine Finger, ich fühlte mich zunehmend unwohl.

In wenigen Minuten war es Stephan gelungen, eine meiner grössten Schwächen beim Musizieren brutal aufzudecken. Ich erinnerte mich an die Klavierstunden bei Jürg, der mich immer wieder darauf aufmerksam gemacht hatte, wie wichtig es sei, «im Time» zu bleiben. Obschon wir hier am Jazzworkshop mit der Band bis zu diesem Augenblick eine wirklich gute Zeit erlebt hatten, kam wieder einmal die Frage hoch, ob ich hier wirklich am richtigen Ort sei.

Dass gemäss Stephan auch viele bekannte Musiker mit dem Rhythmus kämpften, war ein geringer Trost. Sie hätten das einfach nie richtig gelernt, betonte er. Es sei nie zu spät, dieses gerade für den Jazz so wichtige Rhythmusgefühl zu erlernen. Wer die rhythmischen Formen eines Songs spüre und verstehe, fühle sich sicherer und freier. Und muss sich nicht so oft durchwursteln, wie ich das tue, wenn die Noten nicht auf dem Schlag sind, dachte ich. Die restliche Zeit der Probe übten wir verschiedene, immer anspruchsvoller werdende Rhythmen.

Schon lustig, am Vortag beim Abendessen hatte mich Roland, ein hervorragender Schlagzeuger zum Scherz gefragt: «Zählst du beim Spielen, oder hast du es im Bauch?» Natürlich müsste ich zählen, erwiderte ich. So weit, dass ich wie er im vergangenen Sommer in Langnau anderen über schwierige Stellen hinweg helfen könne, sei ich noch lange nicht. Er hätte das auch zuerst lernen müssen, erzählte er. Sein Lehrer hätte während dem Spielen jeweils Fragen gestellt, die er ohne aus dem Takt zu geraten beantworten musste: «Wie heisst die Hauptstadt von Kolumbien? Wie viel gibt 7 mal 21?»

Mir war bewusst, dass eine Verbesserung der Rhythmik viel Übung benötigte und dass ich das Ganze viel langsamer und systematisch angehen müsste. Darauf wollte ich mich in der nächsten Zeit konzentrieren, um mich endlich von dieser so oft spürbaren Unsicherheit zu befreien. Rhythmik allein aus Büchern zu lernen, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich brauchte Anleitung und Unterstützung. Also fragte ich Stephan an, ob er bereit wäre, mir rhythmisch auf die Sprünge zu helfen.

Eine Woche später sass ich bei Stephan auf einem Klavierstuhl und klopfte abwechselnd mit der rechten und der linken Hand Viertelnoten auf die Oberschenkel und versuchte die laufend anspruchsvoller werdenden 4/4Übungen zu bewältigen. Das erforderte viel Geduld. Eine kurze Ablenkung, ein höheres Tempo, und schon geriet ich aus dem Takt. Das Gute an diesen Übungen ist, dass man sie fast überall und jederzeit ausführen kann. Brauchte ich bei der Arbeit eine kurze Entspannung, klopfte ich mir auf die Schenkel. Beim täglichen Marschieren durchs Quartier zählte ich im Takt der Schritte, zuerst Viertel, dann Achtel bis mir schliesslich auch die zweitaktigen Clave-Rhythmusmuster gelangen.

Mit der Zeit erlaubte ich mir immer grosszügigere Übungspausen, um zu prüfen, ob sich mein Bauch-Rhythmusgefühl schon langsam etwas verbesserte und ich in der Lage wäre, diese Muster spontan abzurufen. Hundert Prozent sicher fühle ich mich noch nicht, aber es geht schon viel besser.

Als ich einmal direkt von der Chorprobe beim Besuchsdienst Bern zu Stephan in die Stunde kam und die Gitarre dabei hatte, forderte er mich auf, die Rhythmen auf dem Instrument zu spielen. Seither nehme ich die Gitarre immer mit. Aus den Rhythmuslektionen wurden in der Zwischenzeit Gitarrenstunden, freilich immer noch unter scharfer rhythmischer Beobachtung.

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