Womit zwar selten, aber beim Musizieren mit anderen halt doch ab und zu rechnen ist, wenn man ganz auf Empfang eingestellt ist.
Gänsehaut spürten wir schon zu Beginn meines zweiten, wieder von Thomas Dürst geleiteten, Ensemble-Workshops an der Jazzschule. Nur schon weil Balladen viel ruhiger und entspannter gespielt werden, versprach der Workshop ganz andere Erfahrungen als der Swing-Workshop im vorangegangenen Semester. Damit soll freilich nicht angedeutet sein, langsamere Stücke seien einfacher zu spielen, sind doch das Einhalten des Takts und die Intonation besonders anspruchsvoll.
Auch das Ensemble war neu zusammengesetzt und geprägt von den beiden Sängerinnen. Nach deren Bedürfnissen hätte sich die Rhythmusgruppe auszurichten, betonte Thomas. Mit dem jungen, sehr abgeklärten Drummer und dem erfahrenen Gitarristen schaute ich dieser Herausforderung zuversichtlich entgegen. In den ersten Wochen brachte Thomas immer wieder neue Stücke mit, eines schöner als das andere. Auch Thomas schien ganz hingerissen zu sein, wie ausdrucksstark die beiden Sängerinnen die Balladen schon bei den ersten Versuchen interpretierten. Ich war sehr zufrieden, dass ich diesen Workshop gewählt hatte. Ich konnte auch mit Blick auf die Verwirklichung der Idee, mich singend am Bass selbst zu begleiten, viel lernen.
Nach einem Drittel des Semesters mussten drei Balladen für den Auftritt im Januar ausgewählt werden, um diese in den kommenden Wochen intensiver zu üben. War es das von Hildegard Knef gesungene Lied «Bei Dir war es immer so schön», der Heuler «The Shadow Of Your Smile», einer der vermutlich etwas weniger bekannten Songs wie «Don’t Explain», «Left Alone», «The Lamp Is Low» oder gar der «First Song» von Charlie Haden, bei dem ich am Bass als Intro einen ganzen Chorus solo spielen sollte? Thomas notierte die Lieblingstitel aller Teilnehmenden. Ich nannte die Ballade von Hildegard Knef. Das Ergebnis der Umfrage ergab keine Klärung. Jeder Song wurde gerade einmal genannt. Die Sängerinnen sollten entscheiden. Die jüngere Sängerin sprach sich für Don’t Explain aus. Die zweite Sängerin, die «Bei Dir war es immer so schön» dank ihrer Muttersprache wie echt interpretieren konnte, hatte das Lied vermutlich aus Bescheidenheit selber nicht genannt. Aber sie hatte Freude, dass alle andern diese Ballade unbedingt am Konzert spielen wollten. Um dem Publikum etwas Abwechslung zu bieten, wählten wir schliesslich als dritten Song «The Shadow Of Your Smile», und zwar im Bossa Nova Rhythmus gespielt.
Es entstand eine kurze Diskussion, wer wo welches Solo singen oder spielen sollte, obschon diese Frage im Augenblick noch unwichtig war. Das wollten wir kurz vor dem Konzert entscheiden. Nicht so die jüngere der beiden Sängerinnen. Ihr war bereits klar, dass sie bei dem von ihr bevorzugten Song «Don’t Explain» die Hauptrolle spielen wollte. Alle schauten sie halb erstaunt, halb belustigt an. Aber es war ihr ernst. So ernst, dass sie Thomas fragte, ob er am Konzert Bass spielen werde und – mit einem kurzen Seitenblick zu mir – nicht «der dort drüben». Thomas verneinte das deutlich und meinte, ich mache doch meine Sache ganz gut. Damit war die Diskussion erledigt.
Die Frage der Sängerin interpretierte ich im ersten Augenblick als Geringschätzung meines Könnens. Das musste ich erst einmal verdauen und richtig einordnen. Sie ist ja noch sehr jung, dachte ich, vermutlich ziemlich ehrgeizig und von sich selbst überzeugt. Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Gruppe hatte sich mit ihr nie ein direkter Kontakt ergeben. Ich war auch nicht sicher, ob die anderen den Vorfall überhaupt mitbekommen hatten. Die Bemerkung hatte mich vermutlich besonders stark getroffen, weil ich im Ensemble beim Musizieren besonders «auf Empfang» bin.
Je länger ich über den Vorfall nachdachte, desto grös ser wurden die Enttäuschung und der Ärger. Es kommt vor, dass Lehrpersonen an einer Probe ausnahmsweise für abwesende Studierende einspringen, aber kaum am Abschlusskonzert. Selbstverständlich würde Thomas als einer der besten Bassisten der Schweiz die Ballade viel schöner interpretieren. In dieser Lehrveranstaltung aber hatte er eine andere Aufgabe. Nach der Stunde packte ich meine Sachen und verliess mit einem leisen Abschied rasch den Raum.
Auf dem Weg zur Landoltstrasse, wo eine halbe Stunde später die Probe mit der eigenen Band begann, schossen die Gedanken wild durcheinander. Der dumme Satz hatte mich an einer Schwachstelle getroffen, meinem ohnehin nicht übermässigen musikalischen Selbstvertrauen. Wie hatte ich nur wieder in eine solche Situation geraten können? Sollte ich den Workshop an der Jazzschule gleich aufgeben, oder gar ganz zu spielen aufhören? Aber nein, ich bin doch ein Lernender. Niemand erwartet, dass ich ein neues Stück gleich aufführungsreif spielen kann. Lass dir von dieser Person nicht die Freude an der Musik nehmen, redete ich mir ein.
In der Zwischenzeit war ich im Übungsraum an der Landoltstrasse angekommen, wo wir wie gewohnt ohne grosses Zeremoniell sofort loslegten. Höchste Zeit, die vermutlich unbedachte Bemerkung der jungen Frau richtig einzuordnen und darüber hinwegzukommen. Das schnelle Bebop-Tempo kam jetzt gerade richtig. Von Stück zu Stück ging es mir besser. Nach dreieinhalb Stunden intensiven Probens schmerzen nur noch die Finger und die Muskeln vom vielen Stehen.
Als ich die Geschichte Barbara und auch Housi erzählte, reagierten beide ähnlich. Sie hatten solche Situationen auch schon miterlebt. Offenbar gehört so etwas ebenfalls zum Lernprozess. Es kann vorkommen, dass Mitglieder einer Band plötzlich mit anderen Leuten zusammenspielen wollen oder eigene Interessen auf Kosten der Mitspielenden durchsetzen. Keine heile Welt.
Ich wollte trotz der Verletztheit angemessen auf den Vorfall reagieren. Ich kam zum Schluss, den Zwischenfall am besten gar nicht mehr anzusprechen, auch wenn mir das etwas Mühe bereitete. Eben: «Don’t explain». Ich brauchte mich gar nicht anzustrengen. Die junge Sängerin fehlte anschliessend mindestens dreimal. Sie hätte Probleme mit den Stimmbändern, hiess es. Als sie dann kurz vor dem Auftritt wieder auftauchte, musste sie sich trotz ihrer schönen Stimme ziemlich bemühen, mit dem mittlerweile schon einigermassen routinierten Ensemble mitzuhalten.