Der alte Wolf

Wie man sich in einer Beziehung auch musikalisch gegenseitig beeinflusst und mit etwas Anschubhilfe im privaten Kreis sogar gemeinsame Auftritte wagt.

«Der alte Wolf wird langsam grau», sang Marie-José und drehte sich mit einem schelmischen Lächeln beim Blick auf meine Haare zu mir. Sie hatte sich dieses Lied von Hildegard Knef für Barbaras Schülerkonzert ausgewählt. Es erzählt die Geschichte zweier Menschen, die einen grossen Teil des Lebens miteinander verbracht hatten. Naheliegend, dass Barbara und Marie-José dachten, ich könnte sie am Konzert mit dem Bass begleiten. Die nächste Singstunde fand deshalb bei uns daheim statt, damit der Kontrabass nicht transportiert werden musste.

Obschon uns eine hervorragende Partitur zur Verfügung stand, in der auch die Akkorde angegeben waren, wollte das Zusammenspiel nicht auf Anhieb klappen. Wir mussten das Lied erst richtig kennenlernen und erarbeiten. Auch hatte ich noch keine Erfahrung, eine Sängerin allein mit dem Bass und nicht als Teil einer Rhythmusgruppe zu begleiten. Trotz mehrerer Anläufe waren wir mit dem Ergebnis unzufrieden.

In ähnlichen Situationen hätten wir früher vielleicht aufgegeben, um keinen Konflikt zu riskieren. Doch diesmal blieben wir ruhig und ich fragte, ob vielleicht statt der Begleitung mit dem Bass die Gitarre fürs Singen hilfreicher wäre. Tatsächlich, der Versuch gelang auf Anhieb. Nach weiteren Singstunden und Üben zu Hause waren wir bereit für unser erstes gemeinsames Musikabenteuer. Am Konzert spielte ich zuerst ein kurzes Intro, damit Marie-José den Anfangston hörte. Sie fühlte sich nach der gelungenen ersten Strophe sehr wohl, wurde immer mutiger, begann mit dem Text zu spielen und ihre Gefühle auszudrücken. Der Auftritt machte richtig Spass.

Obschon wir die Freude an der Musik teilen und uns dabei auch gegenseitig beeinflussen, hatten wir noch nie gemeinsam musiziert. Als ich bei Jürg Ammann mit den Klavierstunden begann, spürte auch Marie-José grosse Lust, das am Ende der Schulzeit aufgegebene Klavierspielen wieder aufzunehmen. Kurze Zeit später fand sie eine Klavierlehrerin und wir teilten uns das Clavinova. Das weckte nach den ersten Anfangserfolgen den Wunsch auf ein richtiges Piano und verführte uns zur wohl gewagtesten Anschaffung. Wir besuchten verschiedene Musikgeschäfte, schauten gebrauchte und neue Instrumente an und schraubten dabei die Ansprüche immer höher, einzig von der Tatsache eingeschränkt, dass unsere Wohnung für einen Flügel zu klein ist.

Das müssen wir feiern, meinte Marie-José, als das schöne Piano nach viel Ach und Krach endlich in unserer Wohnung im dritten Stock angekommen war. An einem Hauskonzert mit unseren beiden Klavierlehrern könnte es ein erstes Mal richtig bespielt werden und in seiner ganzen Brillanz erklingen. Marie-José musste keine Überzeugungsarbeit leisten, ihre Lehrerin sagte sofort zu, Jürg Ammann ebenfalls. Wir räumten das Wohnzimmer aus und stellten Stühle auf, die uns Rosmarie zur Verfügung gestellt hatte. Mit ihr und Johann hatten wir ja über die drei Wünsche an die Fee diskutiert. Beide freuten sich mit uns über den wichtigen Impuls zum Musizieren. Mit den Mitbewohnern unseres Hauses, Freundinnen und Freunden waren wir etwa vierzig Personen. Wir fühlten uns nach diesem unvergesslichen Erlebnis wie ein Königspaar.

Leider liess sich Marie-José auch von mir beeinflussen, als ich das Klavierspielen wegen der Schulterprobleme unterbrechen musste. Bisher hatten wir uns auch nach anstrengenden und langen Arbeitstagen gegenseitig zum Üben angespornt. Lässt man das Üben aber einmal sein und dann vielleicht noch ein zweites oder drittes Mal, erlahmt der Eifer schnell. Kommt noch ein äusserer Anlass hinzu, zum Beispiel ein Unterbruch der Stunden bei der Klavierlehrerin, weil sie ein Kind erwartet, ist die Gefahr gross, still und leise aufzuhören.

Wir sind uns nicht ganz einig, wer von uns zuerst mit Singstunden bei Barbara begann. Aber es war unbestritten, dass wir beide zu ihr in die Stunde gingen. Und so ergaben sich die gemeinsamen Auftritte an den Schülerkonzerten. «Der alte Wolf» wird nicht die letzte gemeinsame Produktion sein.

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