Bye Bye Blackbird

Wie eine Programmänderung nach dem schwierigen Beginn des Workshops schliesslich doch noch zu einem magischen Augenblick führen kann.

«Das könnte anspruchsvoll werden», war wohl unseren Gesichtern abzulesen, als wir die Noten von Matt Brewers neuem Song «Anthem» studierten, die er am dritten Tag meiner ersten Jazz Nights in Langnau in den Workshop mitgebracht hatte. Auch Lukas am Altund Thomas am Tenorsaxophon, Stephan am Piano und Konrad am Schlagzeug, die alle über einige Banderfahrung verfügten, runzelten die Stirn. Ebenso wenig brachte die mit dem Smartphone vorgespielte Aufnahme die erhoffte Erleuchtung. Es ist ein wunderbarer Song, das spürten wir alle, aber mit einer Melodie, die verstanden und erarbeitet sein will.

Wie üblich in den Workshops versuchten wir deshalb ganz systematisch an den Song heranzugehen. Nach der Analyse der Struktur spielten wir die Melodie Takt für Takt, zuerst die einzelnen Instrumente jeweils allein für sich und schliesslich zusammen. Aber im Gegensatz zu den gewohnten Standards mit den bekannten Akkordverbindungen, sprengte «Anthem» den üblichen Rahmen, was uns durchaus gefiel. Dies umzusetzen, war schwierig.

Matt spürte bald, dass wir den Song in der kurzen Dauer des Workshops nicht packen würden. Sein Bedauern, uns mit seinem Song überfordert zu haben, war ihm anzusehen. Wir waren unglücklich, das Werk dieses sympathischen Musikers nicht richtig spielen zu können. Aber zum Glück war das kein «performing» Workshop. Es war nicht vorgesehen, den Song abends auf der Bühne beim Viehmarkt vorzutragen. Um die Situation zu retten, schlug Matt vor, noch einen anderen Song anzuschauen, damit wir doch noch richtig zum Spielen kämen. Ob jemand gerade einen Song wüsste, den er gerne spielen würde, fragte er. Wir schauten uns fragend an und wussten, da war sie wieder, diese typische Situation in Bandproben. Soll man einen der üblichen Standards oder einen Song vorschlagen, den man gerade in der Stunde oder mit der eigenen Band spielt? Weil dann meistens einigen die Noten fehlen, einigt man sich schliesslich auf einen Blues.

An diesem Tag hatte ich zufällig den Ordner mit den Noten einiger Songs dabei, die ich schon in der Bassstunde gespielt hatte. Man kann ja nie wissen, hatte ich vor der Workshop-Woche in Langnau gedacht. «Dann sag du, was wir spielen könnten», schlug Stephan vor. Also gut, wie wäre es mit «Bye Bye Blackbird» von Ray Henderson. Stephan nahm den Ordner mit den Noten, setzte sich ans Piano, wir andern stellten uns hinter ihm auf, um ihm über die Schultern schauen zu können, Konrad sass mit leicht zur Seite geneigtem Kopf am Schlagzeug und begann nach den ersten Takten leise mitzuspielen.

Die beiden Bläser warteten noch etwas, ich spielte Wechselbass, also Grundton und Quinte, was meistens passt und den andern dient. Beim zweiten Durchgang begannen sich die Gesichter aufzuhellen, Matt war sichtlich entspannt. Nun setzten die Bläser ein, zuerst mit der Melodie des Stücks, dann mit ersten Improvisationen. Und plötzlich ergab sich der gemeinsame Klang. Wir vergassen alles rundherum, spielten Strophe um Strophe. Die Bläser unternahmen immer gewagtere Ausflüge, holten zwischendurch mit dem Grundmotiv wieder etwas Luft, um gleich wieder abzuheben.

Jetzt könnte die Zeit stehen bleiben, dachte ich, als Matt nach etwa zwanzig Minuten andeutete, dass draussen bereits die Teilnehmenden des nächsten Workshops warteten. Wir spielten noch eine Strophe und liessen die letzten Take leise ausklingen. Kaum einer sprach ein Wort. Wir packten unsere Instrumente ein und alle spürten, das war eine dieser Sternstunden.

Erst als Matt am Freitagabend mit anderen Dozierenden auf der Bühne in der Kupferschmitte auch «Anthem» spielte, glaubte ich den Song zu verstehen. Und weil wir uns nach dem Konzert zufällig auf der Brücke über den Bahngeleisen beim Bahnhof Langnau trafen, konnte ich das Matt sogar noch sagen, worauf wir beide ganz zufrieden gemeinsam durch die Nacht zum Hotel spazierten.

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