Wie ich zur ersten richtigen Band fand, die zwar noch keinen richtigen Namen hat, aber mit den ersten schnellen Bebop-Stücken sehr rasch ihre bevorzugte Stilrichtung erkannte.
«Was wollen wir als Erstes spielen», fragte Matthias, «welche Noten hast Du mitgebracht?» Meine Noten seien alphabetisch geordnet, ich könne ja die Liste durchgehen, schlug ich vor und begann zu blättern. Bevor ich fün dig wurde, fragte Matthias, ob ich «All The Things You Are» kenne. Klar doch, entgegnete ich, bemerkte aber zu spät, dass ich den Titel mit «All of Me» verwechselt hatte. Roland schraubte zwar noch an einer Trommel herum, gab aber mit der anderen Hand bereits den Rhythmus vor. Und schon ging es los. Ich hatte keine Noten dieses Songs dabei. Die auf dem Telefon installierte App iRealPro rettete mich. So wusste ich mindestens die Akkorde. Hoppla, As-Dur, für den Anfang wäre mir eine Tonart mit weniger Vorzeichen lieber gewesen.
So wortkarg, «mutz» wie die Berner sagen, begann das Abenteuer in der ersten «eigenen» Band, ganz anders, als ich das an der Jazzschule, den Jazz-Nights Langnau oder am Workshop in Interlaken erlebt hatte. Housi hatte mich in der Bassstunde gefragt, ob ich Lust hätte mit Matthias, ein Habitué am Jazzworkshop in Interlaken, in einer Band zu spielen. Ich könnte dieses Abenteuer wagen, so würde ich am meisten lernen. Matthias erklärte mir ein paar Tage später am Telefon, dass auch Roland interessiert wäre, als Schlagzeuger mitzuspielen. Ihn hatte ich einmal in einem völlig anderen Umfeld kennengelernt und in Interlaken nach vielen Jahren wiedergesehen. Damit wären wir dann schon drei ältere Herren, die den Übergang in den Ruhestand mit einem langsam grösser werdenden Anteil musikalischer Aktivitäten gestalten wollten. Er hoffe, dass auch Frédéric mitmache, der zwar noch mitten im Arbeitsprozess stünde, aber in wenigen Jahren auch so weit sei, ergänzte Matthias.
Matthias sandte uns vorab ein Bild des Musikraums im Untergeschoss seines Hauses. Bessere Bedingungen kann man sich kaum vorstellen. Neben seiner beachtlichen Saxophon-Sammlung stehen ein Schlagzeug, ein Klavier, eine Orgel sowie Verstärker und Lautsprecher bereit. Ich müsste nur den Bass mitbringen und mit dem Amp verbinden. Deshalb konnten wir beim ersten Treffen auch gleich ohne lang zu tüfteln beginnen.
Zu meinem Erstaunen spielten wir nach dem ersten Stück den ganzen Nachmittag mit der gleichen Intensität weiter. Immer wieder ein nächstes Stück, und dies mit gesundem Tempo. Es war definitiv Bebop angesagt, eine Stilrichtung, mit der ich noch keine Erfahrungen gesammelt hatte. Das bemerkten die Kollegen natürlich schnell, aber wohl auch, dass ich mich damit zu arrangieren versuchte. Bei dem hohen Spieltempo kam ich gar nicht dazu, mir viele Gedanken zu machen. Ich wusste, wenn nur schon die Grundtöne auf Schlag eins im Takt und der Rhythmus stimmten, waren die andern halbwegs zufrieden. Die Kür konnte später kommen. Am Schluss der Probe war ich jedoch völlig erschöpft. Wir legten zwei weitere Termine fest und gingen mehr oder weniger formlos auseinander, als wären wir ausgebuffte Profis, die von einem Engagement zum nächsten unterwegs sind.
Auch die folgenden Proben verliefen ähnlich. Wir spielten jeweils drei bis vier Stunden und arbeiteten intensiv an den mittlerweile etwa zwölf Stücken, die das Fundament unseres Repertoires bilden sollten. Roland und Matthias übernahmen den Lead. Frédéric ist zurückhaltender. Ich habe mit mir selber genug zu tun. Dafür pflege ich die Ablage im Dropbox-Ordner mit unseren Noten und führe ein Protokoll der Proben. Bereits in der zweiten Probe begannen Matthias und Roland dezidiert Wünsche zu äussern und Kritik anzubringen: «Du bist schneller geworden. Da habt Ihr nicht aufeinander gehört. Du spielst zu leise.» Oder im nächsten Song: «Etwas lauter wäre besser.»
Von Probe zu Probe jedoch hörten wir mehr aufeinander, gelang es besser, die Stücke zu interpretieren. Ich fühlte mich auch mit dem mir bisher nicht so vertrauten Bebop immer wohler und musste staunen, welch spannende Musik zu der Zeit gespielt wurde, als ich geboren wurde. «All The Things You Are» spielten wir seither nur noch einmal. Unsere Favoriten heissen «Ornithology», «Hot House», «Con Alma» und «XLento». Erst bei der sechsten Probe fragte Roland, ob Matthias nicht etwas Schokolade hätte, ja, und ein Kaffee wäre vielleicht auch nicht übel. So stiegen wir zum ersten Mal gemeinsam zu Matthias’ Wohnung hoch und stellten dann beim Kaffee fest, dass die Chemie nicht nur beim Musizieren stimmte.
Schon bald einmal war die Rede davon, dass wir am nächsten Workshop in Interlaken zusammenspielen wollten und uns deshalb als Band anmelden wollten. Mir wurde im Scherz angedroht, ich würde aus der Band geworfen, wenn ich den Leuten der «Band von der Curlinghalle» nicht klar machen würde, dass sie einen anderen Bassisten bräuchten. Diese Frage liess sich mit Julia sehr elegant klären. Ich bin nun richtig stolz, endlich in einer eigenen Band mitspielen zu können und sehr gespannt auf die kommenden Abenteuer. Housi hatte sofort das Programm der Bassstunden angepasst, um mich für die schnellen Bebop-Stücke fit zu machen, also spontan und schnell schöne Basslinien zu finden und auch mal ein Solo spielen zu können. Zum trockenen Start passt übrigens auch, dass wir bisher noch nicht ernsthaft nach einem Namen für die Band gesucht haben.