Zwischenspiel: United

Weshalb der Wunsch, mit anderen beim Musizieren einen gemeinsamen Ton zu finden, ein sehr gewichtiger Anstoss ist, ein Musikinstrument zu lernen, obschon das sehr anspruchsvoll sein kann.

Die im ersten Zwischenspiel (Flohwalzer) gestellte Frage, weshalb viele Menschen ein Musikinstrument spielen möchten, kann ich nicht abschliessend beantworten. Das ist auch nicht mein Anspruch. Neben der Möglichkeit, Gefühle auszudrücken oder zu verarbeiten, darf jedoch ein weiterer Grund nicht unerwähnt bleiben: die Freude, gemeinsam mit anderen zu musizieren.

Die magischen Augenblicke, mit anderen Menschen einen gemeinsamen Klang zu finden, wiegen die traumatischen Erfahrungen bei weitem auf, um ein letztes Mal die Geschichte mit der Blockflöte zu erwähnen. Ich musste damals gar nicht so lange warten, bis ich diese Erfahrung machen durfte. Bei der ersten Teilnahme als Viertklässler an einem Jungwacht-Zeltlager sangen wir am Lagerfeuer bis tief in die Nacht hinein Wander- und Lumpenlieder. Heulten wir im Refrain des Liedes «Grande Nazione» den Refrain «O Italia, o bel paese, o evviva, bella Italia» in den Walliser Sternenhimmel, war das ein unglaublich gutes Gefühl, mehr Leichtigkeit und Unbeschwertheit kann man sich kaum vorstellen.

Der Zauber wirkte auch ein paar Jahre später noch, im ersten Lager in der neuen Rolle als Hilfsgruppenleiter auf einer abgelegenen Alp im Kanton Uri, diesmal mit Gitarre. Meine drei Akkorde und ein Kapodaster reichten, um die meisten Lieder begleiten zu können. Noch Jahre später erzählten die Buben meiner damaligen Gruppe von der «Nacht ohne Ende» im Gewitterregen mit Donner und Blitzen auf den Eggbergen.

Ein nächstes Mal ergab sich dieses singende Gemeinschaftsgefühl dann tatsächlich auf den Nachtmärschen während der Rekrutenschule. Mussten wir uns nicht gerade vor imaginären Feinden in Deckung bringen, unsichtbar und leise sein, waren die Vorgesetzten noch so froh, wenn wir uns mit Gesang selbst bei Laune hielten und so die langen Märsche gut überstanden.

Dann dauerte es sehr lange, bis sich das Gefühl, einen gemeinsamen Klang zu finden, wieder einstellte. Zur Hauptprobe und den beiden Konzerten mit dem «Sing-Ding» Chor in der «Cinématte» hatte Barbara für die Begleitung Profi-Musiker engagiert. Das machte das Chorerlebnis gleich viel intensiver und trug dazu bei, die bis zum Schluss spürbaren Unsicherheiten besser zu bewältigen. Zufälligerweise stand ich ganz in der Nähe des Kontrabasses. Das Instrument faszinierte mich, weil es dem ganzen Chor einen Boden gab. So spürten wir in einem der ersten Lieder plötzlich dieses Gefühl, nicht mit Einzelstimmen sondern als Ganzes zu klingen. Dafür hatte sich das Üben und das lange Herumstehen gelohnt. Im Jahr darauf wurde der Chor von Housi Ermel, meinem heutigen Basslehrer, begleitet. Wiederum genossen wir es, uns vom Bass tragen und vorantreiben zu lassen. Obwohl die Stimmung unter den Singenden längst nicht mehr so freundschaftlich und entspannt war wie im Vorjahr, ergab sich dank der musikalischen Begleitung wieder ein gemeinsamer Klang.

Die bewusste, intensive Suche nach dem gemeinsamen Ton, wie das der Chor im schwedischen Film «As It Is In Heaven» tat, ist wohl eher die Ausnahme. Barbara versuchte dies einmal mit ihren Schülerinnen und Schülern an einem Samstagsworkshop, kurz nachdem der Film im Fernsehen ausgestrahlt worden war. Der Anfang war schwierig, aber ab und zu fühlten wir diese gemeinsamen Schwingungen. Solche Momente entstehen wohl plötzlich und werden dann vielleicht erst gar nicht richtig wahrgenommen. Das kann auch mit Menschen geschehen, mit denen man ein erstes Mal zusammenspielt, wie ich das an den Jazz-Workshops in Langnau und in Interlaken erlebt habe.

Es darf jedoch nicht erwartet werden, dass sich das Erlebnis sogleich wieder einstellt, wenn man mit den gleichen Menschen an einem anderen Tag wieder zusammen musiziert. So stellten wir in einem der ersten Balladen-Workshops an der Jazzschule einmal nach einem Song fest: «Wow, das war intensiv, wunderbar!» Drei Monate später und eineinhalb Wochen vor dem Konzert, war davon an der Probe nichts zu spüren. Als ich am Abend die Aufzeichnung hörte, berührten mich die drei Balladen gar nicht. Auch Marie-José zog fragend die Augenbrauen hoch. Auf der Bühne waren dann alle ziemlich nervös und vor allem mit sich selbst beschäftigt. Auch da stellte sich das «Wow-Gefühl» nicht mehr ein. Erst drei Tage nach dem Auftritt, als wir im allerletzten Workshop die drei nicht fürs Konzert ausgewählten Balladen nochmals spielten, gelang es uns, wieder zu einen Ensemble zusammenzufinden.

Auch als Zuhörer in Konzerten und im Theater stelle ich immer wieder fest, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Künstlerinnen und Künstler eines Ensembles den gemeinsamen Klang finden. Eine Darbietung, die unter die Haut oder direkt in den Bauch geht, nehme ich als Geschenk entgegen, wofür ich mich mit Applaus und manchmal Freudenrufen bedanke. In den letzten Jahren habe ich zudem die Erfahrung gemacht, dass sich die Künstler auch über ein persönliches Dankeschön freuen.

Das hätte ich früher nie gewagt, bis ich einmal unweit des Stadttheaters Bern dem Bariton Orazio Mori begegnete, den ich ein paar Tage zuvor als Don Pasquale auf der Bühne gesehen hatte. Bevor mir eine gescheite Bemerkung in den Sinn gekommen wäre, war der Sänger schon an mir vorbeigegangen. Ich bereute die verpasste Chance und überlegte auf dem Nachhauseweg, was ich ihm hätte sagen sollen. Bereits am nächsten Tag ergab sich an fast der gleichen Stelle die Gelegenheit erneut. Vermutlich kam der Sänger gerade von der Probe. Als wir auf der gleichen Höhe waren grüsste ich ihn mit tiefer Bassstimme:

«Don Pasquale, buon giorno». Er blieb stehen, grüsste mit ebenso tiefer Stimme zurück: «Buon giorno, Signore» und schaute mich fragend an. Ich erzählte ihm begeistert vom Theaterbesuch und dankte ihm für den schönen Abend. Wir plauderten ein paar Minuten über alles Mögliche und verabschiedeten uns als gute Freunde. Einige Zeit später sah ich Mori mit einigen Mitgliedern des Ensembles auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Er hielt an, winkte mit beiden Armen und rief: «Ciao amico, ciao, buona serata!»

Seither spreche ich auch im Marians Jazzroom ab und zu Musiker an, die mich besonders beeindrucken. Nicht selten warten die Musiker in der Nähe des Eingangs, signieren im Foyer ihre CDs oder rauchen draussen eine Zigarette. Gewöhnlich halte ich im Vorbeigehen kurz an, bedanke mich für das schöne Erlebnis. Das führt immer zu einem freundlichen Lächeln und manchmal zu einer kurzen Plauderei. Völlig perplex war ich, als der Bassist Jay Anderson, den ich an den Jazzworkshops in Langnau als Dozenten kennengelernt hatte, nach dem Konzert den Bass ablegte und von der Bühne direkt zu mir kam und mich zur Begrüssung umarmte. Dass wir bei ihm im Workshop den weniger bekannten Standard «United» gespielt hatten, kam also nicht von ungefähr.

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