Wenn grosser Fleiss und Wille nicht nur Lernfortschritte bringen, und warum es sich lohnt, auf Signale des Körpers zu achten sowie für die Ergonomie beim Musizieren keinen Aufwand zu scheuen.
Der Wunsch, einfach ans Klavier sitzen und spielen zu können, lässt sich nur mit sehr viel Arbeit erfüllen. Konnte ich in der Schule ohne allzu grosse Anstrengungen locker im Mittelfeld mitschwimmen, musste ich nach den ersten Wochen bei Jürg feststellen, dass mir das Klavierspielen nicht in den Schoss fallen würde und mit Durchwursteln nichts zu erreichen war.
Die Hände müssen die Musiknoten in rhythmisch korrekte und voneinander unabhängige Bewegungen übertragen. Das muss täglich wiederholt und geübt werden, bis die Abläufe leicht und selbstverständlich werden. Ist das einigermassen geschafft, muss dauernd daran gearbeitet werden, um das Niveau zu halten. Schon nach kurzer übungsfreier Zeit funktionieren die Bewegungsabläufe nicht mehr wunschgemäss. Diese können zum Teil rasch wieder aktiviert werden. Sie lassen sich aber nicht für immer verinnerlichen wie beispielsweise das Schalten beim Autofahren. Louis Armstrong soll gesagt haben: «If I don’t practice for a day, I know it. If I don’t practice for two days, the critics know it. And if I don’t practice for three days, the public knows it.» Wenn also selbst die Profis dauernd üben müssen, was muss ich erst tun, um Fortschritte zu machen und zu erhalten. Ich nahm mir darum vor, viel und regelmässig zu üben.
Üben gehört zum Musizieren wie stürmisches Wetter zum Herbst, heisse Tage zum Sommer. Das heisst freilich nicht, dass man dazu immer Lust hat und noch weniger, dass man richtig übt. Wer als Erwachsener neu oder wieder ein Instrument spielen lernt, übt vermutlich motivierter als Kinder und Jugendliche, die den Instrumentalunterricht unter Umständen gar nicht freiwillig besuchen. Andererseits war regelmässiges und intensives Üben mit der Berufstätigkeit nicht leicht in Einklang zu bringen, schon gar nicht als Freiberufler. Der Tagesablauf war oft fremdbestimmt, lange Tage bildeten eher die Regel.
Zwar konnte ich mit dem Digitalklavier dank Kopfhörern mitten in der Nacht spielen, ohne die Nachbarn zu stören. Doch dazu reichten dann meist weder die Energie noch die Spielfreude. Nach dichten Tagen verschob ich das Üben auf morgen, dann auf übermorgen, obschon mir bewusst war, dass ich auf diese Weise die Hausaufgaben nicht wie gewünscht erledigen konnte. Es war auch klar, dass ich Jürg nichts vorgaukeln könnte. Er würde in den ersten Minuten der Klavierstunde bemerken, dass ich zu wenig geübt hatte. Umso mehr konzentrierte ich mich, wenn ich endlich Zeit und Lust zum Üben hatte.
Dass ich damit viel zu wenig zum ebenfalls wichtigen «Herumspielen» kam, war noch zu verschmerzen. Ich redete mir immer wieder ein, ich könnte das nach dem sich irgendwann einstellenden Durchbruch sicher noch nachholen. Schlimmer war, dass ich mich am Klavier zu verkrampfen begann, was ich anfänglich erst in der Nacht oder am anderen Tag bemerkte, wenn die Schultern und Arme schmerzten. Ich ignorierte die Warnungen und redete mir ein, die Beschwerden würden mit zunehmend besserer Technik abklingen.
Erst als die rechte und dann die linke Schulter blockiert waren, was auf beiden Seiten jeweils mehr als ein halbes Jahr Heilungszeit und damit auch Abstinenz vom Klavierspiel erforderte, versuchte ich die Ursachen der Beschwerden von Grund auf zu analysieren. Mit einem Stehpult im Büro, einer Brille für die Arbeit am Bildschirm, regelmässiger Gymnastik und ständiger Kontrolle der Körperhaltung erreichte ich spürbare Verbesserungen im Alltag. Kaum sass ich aber wieder am Klavier, meldete sich nach kurzer Zeit der Nacken, so dass ich rasch wieder aufhörte, um ein erneutes Entzünden der Nerven, Sehnen und Muskeln zu vermeiden.
Auch im Gespräch mit Jürg fanden wir für das Problem keine andere Lösung, als mit dem Klavierspielen ganz aufzuhören. Damit wäre wieder eine Fee mit Vorschlägen zur Problemlösung gefragt gewesen. Ich bin überzeugt, dass mein Fall damals nicht hoffnungslos war, vielleicht meinerseits aber etwas mehr Geduld und Umsicht erfordert hätte. Im Nachhinein vermute ich, dass die Korrektur der Brillengläser nicht zum Abstand zwischen den Augen und den Noten passte, was zu einer verkrampften Haltung führte.
Die für die individuellen Lebenslagen und Ziele richtige Art und Weise zu üben oder zu trainieren, muss man selbst herausfinden. Offenbar kann das Ergebnis nicht nur von der Intensität und Dauer des Übens abhängen, wenn sich der Körper wehrt. Quantität ist nicht das einzige Kriterium. Die oft erwähnten 10’000 Stunden bis zum Profiniveau sind möglicherweise ein falsches Signal.
Mein Basslehrer Housi Ermel empfiehlt zudem, schwierige Stellen isoliert anzuschauen und diese langsam zu spielen, bis sie korrekt klingen. Immer das ganze Stück zu spielen, aber jedes Mal bei den schwierigen Passagen langsamer zu werden oder zu stolpern führe dazu, dass das Gehirn die falschen Informationen speichere.
In der Zwischenzeit habe ich selbst erfahren, dass kürzere und von anderen Tätigkeiten unterbrochene Wiederholungen mehr bringen als stundenlanges Üben. Das ist freilich mit dem Tagesablauf eines Halbrentners leichter zu verwirklichen als mit voller Agenda und vielen unerledigten Aufgaben. Es verspricht aber letztlich neben grösserer Spielfreude auch eine bessere Kondition. Dass ich die über dreistündige intensive Probe mit der Band besser und ohne mich zu verkrampfen aushalte, ist ein ausgesprochen angenehmer Nebeneffekt. Wichtig erscheint mir, sich mit der Thematik bewusst zu befassen, den individuell passenden Modus des Übens zu finden und regelmässig zu überprüfen, um körperliche Beschwerden zu vermeiden. Und melden sich diese trotzdem wieder einmal, versuche ich die Warnung zu akzeptieren und sofort die Intensität zu verringern. In diesem Sinne will denn auch der Titelsong «Put Your Head on Your Shoulder» verstanden sein.