Hemmige

Was alles zu hören und zu fühlen ist, wenn man bei einem Musikstück konzentriert auf die tiefen Töne achtet und wie sich ein zufriedener Gitarrist Hals über Kopf in einen Kontrabass verliebte.

Matters «Hemmige» war eines der ersten Lieder, bei dem ich den Chor des Besuchsdienst Bern mit der Gitarre begleitete. Das für die psychisch beeinträchtigten Mitglieder des Chors fast programmatische Chanson, das Mani Matter in acht Strophen so spannend und ausdrucksvoll singt, kann von einem Chor gesungen leicht träge und auch etwas eintönig wirken.

Wir entschieden uns deshalb für die Version von Stephan Eicher mit dem «Break» nach der zweiten Strophe und der – nach ein paar trockenen Schlägen auf die Gitarre – rasanten Fortsetzung in einem rockigen Groove. Das klang nun wirklich nicht schlecht und war lange fast so etwas wie die Erkennungsmelodie des Chors; bis dann Stimmen laut wurden, die Hemmungen zu singen hätte man in der Zwischenzeit doch schon ziemlich gut überwunden.

Das in a-Moll gespielte Chanson eignete sich auch sehr gut für die Begleitung mit dem Kontrabass, den Dominik einmal mitgebracht und im Besuchsdienst Bern stehen gelassen hatte. Man brauchte nur die Leersaiten zu zupfen, um den Chor mit dem Grundton des jeweiligen Akkords zu unterstützen. Meistens spielte Susanna* mit dem Bass, bis sie immer seltener im Chor erschien. Trotzdem machte Barbara das Instrument vor der Probe jeweils bereit. Es blieb meist unberührt stehen, bis mich einmal eine Sängerin während der Pause fragte, wie man auf dem Kontrabass die Töne finde, wenn man nicht nur die leeren Saiten zupfen, sondern auch andere Noten spielen wolle. Das funktioniere wohl ähnlich wie mit der Gitarre, antwortete ich, nur viel tiefer und mit lediglich vier Saiten. Schwierig sei wohl vor allem, die Töne richtig zu treffen, da es im Gegensatz zur Gitarre weder Bundstege noch Punkte auf dem Griffbrett gibt. Auch spiele man anstatt ganzer Akkorde fast immer Einzeltöne. Dafür müsse man zuerst lernen, wo genau die Saiten gedrückt werden müssen.

Um das gleich einmal zu versuchen, nahm ich den Bass und spielte die E-Saite offen, also ohne einen Ton zu drücken. Und ungefähr hier müsse das F sein und hier das G, fuhr ich fort. Tatsächlich klang das nach leichtem Nachbessern der Fingerposition auf der Saite schon gar nicht übel. Ich versuchte das auch auf den anderen Saiten, spürte bei jeder Note mit dem ganzen Körper die Schwingungen des Instruments.

«Coup de foudre», eine wie ein Blitz einschlagende Liebe beschreibt am treffendsten, was ich in diesem Augenblick erlebte. Ich spielte die ganze Pause auf dem Bass herum, hatte alles um mich herum vergessen und gar nicht bemerkt, dass die Chormitglieder längst aus der Pause zurückgekehrt waren.

Nein, man kann als Gitarrist nicht einfach Bass spielen, stellte ich rasch fest, als ich den Chor beim nächsten Lied auf dem Bass begleiten wollte. Bei jedem Takt auf den ersten Schlag den Grundton des Akkords zu spielen, ist sicher ein Anfang. Eine schöne Basslinie ergibt sich damit noch lange nicht. Zudem stellt die Intonation für Anfänger eine echte Herausforderung dar. Überhaupt: Wie hält man das Instrument? Wie steht man? Wie drückt man die Saiten, damit die Töne sauber klingen? An welcher Position zupft man mit der rechten Hand? Bevor einen diese Fragen so richtig überfordern, beginnen auch schon die Fingerkuppen der linken Hand zu schmerzen oder bildet sich eine Blase am Zeigefinger der rechten Hand.

Ich stellte den Bass rasch wieder ab und begleitete den Chor wie zuvor mit der Gitarre. Doch das Instrument liess mir keine Ruhe mehr. Nach der Probe betrachtete ich den Kontrabass genauer. Er hatte wohl schon manches Abenteuer erlebt, sagten mir die vielen kleinen Schäden im Lack und der schon sehr matte Glanz. Die löchrige braune Stoffhülle, die ich ihm schliesslich überzog, schützte vor Staub, aber kaum vor Schlägen.

Nach der Probe gestand ich Marie-José, ich hätte mich in den Kontrabass verknallt und müsse nun sogleich im Internet nach weiteren Informationen suchen. Als erste Informationsquelle ist das Internet also schon fantastisch. Früher wäre ich vermutlich erst einmal in ein Musikgeschäft gegangen, um zu erfahren, was ein solches Instrument kostet, und hätte vielleicht ein Lehrbuch gekauft. Kontrabässe stehen allerdings auch in grossen Musikgeschäften nicht wie Gitarren oder Klaviere in grosser Zahl herum.

Nach kurzer Suche stiess ich auf die Webseite kontrabass.ch von Giorgio Pianzola und seinem Kontrabass-Paradies. Die Bezeichnung ist tatsächlich nicht übertrieben. Weil die Werkstatt des Instrumentenbauers zwischen dem Bremgartenfriedhof und dem Areal des Inselspitals nur einen Katzensprung von meinem Wohnort entfernt ist, rief ich gleich an und stand kurze Zeit später vor der Tür zu diesem Paradies mit dem wunderbaren Geruch nach Hölzern und Lacken. Beim Eingang standen ungefähr fünfzig Instrumente in Reih und Glied, als fände im Raum gleich eine Versammlung ehrwürdiger Personen statt. Einige der Bässe sahen schon sehr alt aus und waren vermutlich auch ziemlich teuer. Giorgio Pianzola führte mich aber gleich in die Werkstatt, wo auf Tischen und Werkbänken Instrumente in verschiedenen Stadien der Bearbeitung lagen. Dort hatte eines einen gebrochenen Hals, da mussten ein Griffbrett geschliffen, eine neue Brücke montiert und Saiten aufgezogen werden.

Anfängern empfehle er eines der günstigen in China produzierten Instrumente, das von ihm nochmals rundum bearbeitet und mit einzelnen qualitativ besseren Teilen ausgestattet werde, erklärte Pianzola. Deshalb habe er mich auch in die Werkstatt geführt, fuhr er fort. Er nahm ein Instrument in die Hand, das er gerade fertig überarbeitet hatte, und begann darauf zu spielen. Ich war hingerissen und brauchte nur wenige Nächte, um mich für den Kauf des Kontrabasses zu entschliessen. Hinzu kamen noch eine grosse Tasche und ein «Buggy», ein Brett mit zwei Rädern, um das sperrige Instrument etwas besser transportieren zu können.

Unbedingt solle ich bei einem Lehrer Stunden nehmen, nur schon um die richtige Haltung zu erlernen, empfahl Pianzola. Er habe unter seinen Kunden verschiedene Basslehrer und begann Namen aufzuzählen. Als er Hans bzw. Housi Ermel erwähnte, sagte ich, er müsse nicht fortfahren. Ihn hätte ich schon persönlich als Bassisten bei einem Chorprojekt kennengelernt, und ich würde ihn ganz sicher zuerst anrufen. Zwei Wochen später, am 25. März 2015 um genau zu sein, hatte ich die erste Lektion in Housis Studio im Mattequartier, wo ich seither jede zweite Woche regelmässig hinpilgere.

Hemmungen, mich in ein Abenteuer mit einem neuen Instrument zu stürzen, hatte ich keine. So gesehen passt der Titel des Kapitels nicht besonders. Doch konnte ich das Chanson schon kurze Zeit später auf dem Bass begleiten. Bis ich mich allerdings an das rasante Bass Solo von Pino Palladino wagte, das auf Stephan Eichers CD «Engelberg» (1991) nach der sechsten Strophe zu hören ist, musste ich noch eine Weile üben.

Ich könnte niemandem ein Kopfschütteln angesichts der verschiedenen im Abstand weniger Jahre angeschafften Instrumente verargen. Eine weitere Gitarre, in Ordnung, aber nun ein Kontrabass? Hätte ich die Wahl des Instruments wie bei einer Berufsberatung einmal ganzheitlich abgeklärt, wäre ich wohl schon früher darauf gekommen. Sei es drum. Neben dem Klang, der Form und der Grösse des Instruments gefiel mir von Anfang an die Rolle des Bassisten in einem Ensemble. Er bleibt eher im Hintergrund, nimmt mit den tiefen Tönen in einer Band aber eine tragende Funktion und damit auch eine grosse Verantwortung wahr. Das verlockte zum vorläufig letzten, aber immer noch andauernden Ausflug in die musikalische Welt der Bässe, jedoch ohne meine Gitarren zu vernachlässigen.

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