Weshalb Gitarre spielen zu einer echten Herausforderung werden kann, wenn man mit diesem Instrument nicht nur Lieder begleiten, sondern auch Melodien spielen will.
Der Vorsatz, nach dem Abbruch der Stunden bei Jonas das Gelernte erst einmal zu verarbeiten und nicht ständig neue Songs anzugehen, hielt nicht allzu lange hin. Zu gross war die Lust nach weiteren Entdeckungen. Auch wollte ich endlich auch einmal Solos spielen können oder noch lieber improvisieren.
Jonas’ Bluesphrasen, sogenannte Licks, stellten dafür einen guten Ausgangspunkt dar. Doch fand ich nicht den Weg, damit weiterzuspielen und frei zu improvisieren. Auf dem Klavier hatte ich jeweils mit der rechten Hand mehr oder weniger spontan über die Akkorde in der linken Hand «geklimpert». Auf der Gitarre hingegen ist es sehr anspruchsvoll, gleichzeitig mit Einzeltönen und Akkorden zu solieren. Dazu bin ich auch heute noch nicht in der Lage. In der Zwischenzeit habe ich aber erste Vorgehensweisen zum Improvisieren kennengelernt: einfache Veränderungen im Rhythmus, vorsichtige Variationen der Melodie, freies Spiel über die Pentatonik-Tonleiter.
Das Repertoire an Akkorden in den oft gespielten Tonarten zu vergrössern, ist mit Fleiss und visueller Vorstellungskraft einigermassen schnell zu schaffen. Schwieriger hingegen ist es, alle Töne auf dem Griffbrett einer Gitarre oder eines Basses zu finden. Diese sind leider nicht so gut erkennbar wie beim Klavier mit den schön aufgereihten weissen und schwarzen Tasten. Die Punkte zwischen verschiedenen Bundstäbchen erleichtern lediglich das Erkennen der gewünschten Lage. Hinzu kommt, dass der gleiche Ton an mehreren Stellen auf verschiedenen Saiten angeschlagen werden kann. Bei der Standard-Stimmung der Gitarre kann das G3 (196 Hz) leer mit der G-Saite, im 5. Bund der D-Saite, im 10. Bund der A-Saite sowie im 15. Bund der E-Saite gespielt werden. Hinzu kommt, dass die H- zur G-Saite nicht in einer reinen Quarte sondern einer grossen Terz gestimmt ist. Das macht es noch schwieriger, sich die Lage der Töne auf dem Griffbrett einzuprägen. Am Anfang war es einfach nur verwirrend. Tonleitern und Melodien mit der Gitarre zu spielen, erfordert gute Kenntnisse der Geografie des Griffbretts.
Der Gitarrentabulator (Tabs) wurde wohl auch wegen dieser Schwierigkeiten entwickelt. Akkorde und Melodien lassen sich so einfacher «konstruieren» bzw. nachspielen. In der Regel werden die Tabs zusammen mit den Noten dargestellt, was das Lernen eines Songs erleichtert. Ein neues Stück auf diese Weise direkt ab Blatt zu spielen, schaffe ich nicht. Ich schaue abwechselnd Noten und Tabs an, kann beide Informationen nicht gleichzeitig verarbeiten. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als Melodien ganz langsam zu lernen und dann auswendig zu spielen. Die Tabs nutze ich hauptsächlich, um Fingersätze und die optimalen Lagen der Akkorde zu erkennen.
Das weitere Vordringen in die Welt des Jazz mit komplexeren Harmonien deckte unbarmherzig theoretische Wissenslücken auf. Ich wollte Melodien nicht nur nachspielen und mich über die «schrägen» Klänge von gelegentlich verwendeten Major7/13-Akkorden freuen. Ich möchte auch deren Funktion verstehen. Auch war ich aufgeschmissen, wenn ich für die Begleitung der Chöre Noten ohne Angabe der zugehörigen Akkorde erhielt oder ein Lied beim Proben unvermittelt transponiert werden musste. Bis ich die Akkorde in meiner Tabelle mit den Kadenzen der verschiedenen Tonarten nachgeschlagen hatte, hatte die Chorleiterin das Lied längst mit dem neuen Anfangston auf dem Klavier angestimmt und den Chor auf die Reise gesandt.
Diese Defizite wollte ich endlich überwinden. Zuerst versuchte ich es erneut mit dem unüberschaubaren Angebot an Kursen im Internet. Da kann man wirklich sehr viel lernen, wenn auch nicht wie oft versprochen in 30 Tagen. Zudem sind Kompetenzen erforderlich, den Lernstoff selbst zu erarbeiten. Man muss sich motivieren, täglich daran zu arbeiten und sich zu helfen wissen, wenn etwas nicht auf Anhieb gelingt oder unverständlich ist.
Nun hat der Instrumentalunterricht neben der kognitiven Herausforderung auch einen sehr grossen handwerklichen Anteil. Verstehen allein genügt nicht. Die erforderlichen neuen Bewegungsabläufe muss man zuerst langsam lernen und dann wiederholen, bis sie automatisch gelingen. Auch dazu gibt es Informationen auf YouTube. Aber es ist aufwändig, im riesigen Angebot den passenden Online-Kurs zu finden. Schliesslich fehlt eben doch die Anleitung der Lehrperson, die einen beobachtet und wenn nötig korrigiert und unterstützt.
Deshalb suchte ich wieder einen Lehrer. Zu Rasmus Nissen fand ich ebenfalls via Google mit den Suchbegriffen «Gitarrenstunden» und «Bern». Zusammen mit vielen anderen Lehrpersonen stellte er sich auf der Website instrumentor.ch vor. Rasmus schloss damals gerade seine Ausbildung an der Musikhochschule ab. Neben ein paar wenigen Privatschülern unterrichtete er am Gymnasium und spielte in verschiedenen Bands. Wir vereinbarten eine Probestunde, in der wir meine Lernbedürfnisse und das Vorgehen sehr systematisch definierten. Ein Approach, der mir auf Anhieb behagte.
Rasmus spürte meinen Lernhunger und setzte das Motto «Fördern und Fordern» gleich von der ersten Stunde an um. Ich machte rasch Fortschritte, musste aber auch die Langsamkeit von Lernprozessen akzeptieren lernen. Das ist leichter gesagt als getan. Auch im Musikunterricht verläuft die Lernkurve nicht schön linear. Gelingt ein Stück heute wunderbar, stolpert man morgen immer wieder an der gleichen Stelle. Glaubt man einen harmonischen Zusammenhang oder anspruchsvollen Rhythmus verstanden zu haben, gelingt es nicht auf Anhieb, dieses Wissen auf einen anderen Song zu übertragen oder in einer anderen Tonart anzuwenden. Dies zu begreifen, ist mindestens ebenso wichtig, wie einen Standard auswendig und fehlerlos spielen zu können.
Rasmus erklärte mir den «theoretischen Unterbau» der Songs sehr anschaulich. Ich lernte Akkorde mit Umkehrungen an verschiedenen Stellen des Griffbretts zu spielen. Dies ermöglicht einerseits eine ökonomische Spielweise, weil die linke Hand nicht mehr wild über das Griffbrett rasen muss, sondern die Akkorde mehr oder weniger in der Nähe spielen kann. Gleichzeitig lässt sich die Begleitung auf diese Weise wunderbar variieren. Dazu ist es erforderlich, die Umkehrungen der Akkorde zu kennen.
In beinahe jeder Stunde wartete Rasmus mit einem überraschenden neuen Lerninhalt auf. Einmal zeigte er eine mir bisher unbekannte Methode, ab Blatt spielen zu lernen. Die Herausforderung der sogenannten Leseübungen [*] besteht darin, Notenreihen ohne zusammenhängende Melodie nachzuspielen. Wie schnell das geschieht ist unwichtig. Das Tempo muss jedoch gleichmässig sein. Man sollte bei den anspruchsvolleren Stellen nicht langsamer werden. Das Ziel besteht nicht im Auswendiglernen. Hat man eine Übung «gelesen», folgt die nächste.
Nachdem ich schon einige dieser Leseübungen hinter mir hatte, legte Rasmus zur Abwechslung das Leadsheet von «Bluesette» auf den Notenständer. Ich hatte den Song von Jean Thielemans noch nie bewusst gehört und war sofort elektrisiert. Obschon Rasmus «Bluesette» nur als Leseübung gedacht hatte und dieser Song sicher nicht zu den einfacheren Standards gehört, wollte ich ihn unbedingt lernen.
In meiner Sammlung von Realbooks fand ich eine Version des Songs mit Liedtext, den ich Barbara in der Singstunde zeigte. Es fiel mir leichter, das Lied zu singen, als auf der Gitarre zu spielen. Umgekehrt half mir beim Spielen, die Melodie und den Text im Kopf zu haben. Dar aus entstand die für mich beste Lernmethode, die wir bis heute pflegen. Ich versuche möglichst alle auf dem Instrument erarbeiteten Songs in den Singstunden bei Barbara auch zu singen. Bei Stücken, die ich mit Bass spiele, passt die Tonart meistens auch zur Stimmlage. Ich lerne so nicht nur die Kompositionen besser kennen. Die Lernmethode unterstützt auch den anspruchsvollen Plan, mich irgendwann einmal zum Singen mit dem Bass begleiten zu können.
[*] Leavitt, William G. Reading studies for guitar: Poitions one through seven and multi-position stuides in all keys. Berklee, 1979.