5-Finger Song

Wie sich ein lange Zeit gehegter Wunsch mit der Unterstützung guter Freunde auch ohne märchenhafte Mithilfe verwirklichen lässt.

«Lass den dritten Wunsch an die Fee offen, den kannst du dir selbst erfüllen», fand Johann. Beim Abendessen hatten wir einander gerade erzählt, welche Wünsche wir an eine Fee richten würden. Mein dritter Wunsch wäre, mich ans Klavier setzen und einfach alle Melodien spielen zu können, die mir gerade durch den Kopf gingen, hatte ich gestanden und damit Johann herausgefordert. Er kenne einen Klavierlehrer, fuhr er fort, der auch Erwachsene unterrichte. Ein Digitalklavier koste nicht alle Welt. Ausserdem könne man mit Kopfhörern spielen, störe also niemanden und müsse sich als Anfänger auch nicht schämen.

Der Gedanke an die Klavierstunden liess mich den ganzen Abend nicht mehr los. Ich war zwar zuerst etwas erstaunt, dass ausgerechnet Johann einen Klavierlehrer empfahl, hatte er sich das Klavierspielen doch selber beigebracht. Auch heute noch sagt er, nicht richtig Noten lesen zu können und nur nach Gehör zu spielen. Dies allerdings auf beeindruckende Weise, wenn er sich dann einmal dazu überreden lässt, etwas zu spielen.

Klar, Johann durfte ich mir nicht zum Vorbild nehmen. Doch befolgte ich seinen Rat und nahm Kontakt mit Jürg Ammann auf, der auch einige erwachsene Schülerinnen und Schüler unterrichtete. Nach einer Probelektion kurze Zeit später war ich fest entschlossen, mich auf das Piano-Abenteuer einzulassen. Noch in der gleichen Woche stand ein Digitalpiano in der Wohnung, mit dem auch Marie-José wieder Klavier spielen wollte.

In den ersten Klavierstunden lernte ich den 5-FingerSong. Die Komposition von Jürg Ammann ermöglichte einen raschen ersten Erfolg mit schönen Klängen, die gar nicht nach Kinderliedern klangen. Doch der 5-Finger Song forderte einen rhythmisch heraus und liess die Hände ein erstes Mal gut spüren, dass es nicht einfach ist, sich voneinander unabhängig über die 88 Tasten zu bewegen.

Die Klavierstunde bei Jürg fand jeweils am Freitag über den Mittag statt, gab diesem Wochentag eine besondere Bedeutung und war eine schöne Einstimmung aufs Wochenende. Ein fester Platz der Musikstunden im Wochenprogramm motiviert mich heute noch, regelmässig zu üben, und zwar auch nach anstrengenden Arbeitstagen. Bin ich zu müde, um ein neues Stück einzustudieren, spiele ich Tonleitern, Intervalle und zur Belohnung ein Stück, das ich schon gut kann.

Am Piano waren schnelle, motivierende Anfangserfolge kaum zu erwarten. Ich musste zur Kenntnis nehmen, wie sich die Hände auszuführen weigerten, was ich doch längst verstanden glaubte. Bis zum freien Improvisieren stand ein sehr langer Weg bevor. Die Gabe, einfach drauflos zu spielen, war mir sicher nicht in die Wiege gelegt worden. Ich musste akzeptieren, dass ich nur langsam vorankam und sich der Lernfortschritt trotz Fleiss und Konstanz scheinbar kaum beschleunigen liessen. Die Lernkurve verläuft nach eigenen Regeln. Unvermittelt flacht sie wieder ab oder setzt gar zum Sinkflug an, um dann in einem schönen Moment ein paar Tage später wieder nach oben zu zeigen. «Weshalb tue ich mir das an», fragte ich mich manchmal. Lagen die Eltern in der Einschätzung meiner Möglichkeiten etwa doch nicht so weit daneben?

Jürg verstand es sehr gut, auf diese schwierige Situation in der ersten Phase des Lernprozesses einzugehen. Er war immer ansprechbar für meine bisherigen musikalischen Erfahrungen und die vielen Songs, die ich bereits kannte. Auch wenn eine auf einer CD oder an einem Konzert gehörte Melodie meine spielerischen Kompetenzen noch bei weitem überstiegen, liess sich daraus meistens mindestens eine kurze Sequenz spielen. Manchmal transkribierte Jürg ein Stück, wenn keine Noten verfügbar waren. Mein Speicher an Melodien im Kopf kam mir beim Einstudieren neuer Lieder entgegen. Ich konnte zum Beispiel «Take The A-Train» noch nicht spielen, aber doch singen oder pfeifen. Freilich konnte die Erinnerung auch täuschen. Vor allem rhythmisch stimmten die erinnerten Melodien nicht zwingend mit dem Original überein.

Ich lernte auf eine ähnliche Weise Klavier spielen, wie ich lesen gelernt hatte. Statt zu buchstabieren lernten wir damals zum Schrecken der Eltern einzelne Worte lesen. Allerdings durfte ich am Klavier nicht darauf hoffen, wie damals beim Lesen von «einem Tag auf den anderen» plötzlich spielen zu können und diese Fähigkeit nie mehr zu verlieren. Das war schon klar.

Trotzdem, die Klavierstunden bei Jürg bildeten den Auftakt zum Plan, einen nach und nach grösser werdenden Teil des Lebens der Musik zu widmen, mich auf eine Reise zu begeben, die erst enden muss, wenn wirklich Schluss ist.

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