Heinzelmännchens Wachtparade

Wie spannend es sein kann, verschiedene Stilrichtungen der Musik zu erkunden und weshalb auch eine scheinbar kluge Strategie mit Bedacht umgesetzt werden sollte.

Die meisten Schüler meiner Klasse liessen sich nicht zweimal bitten, im Chor der Kantonsschule Freudenberg mit dem Schülerorchester an einer Aufführung von Mozarts «Spatzenmesse» mitzuwirken. Dies wohl auch, weil Schülerinnen der Töchterschule mitsangen. In den Mittelschulen gab es damals noch keine gemischten Klassen. Die ersten Proben fanden zuerst klassenweise in einem Musikzimmer hinter der Mensa im Gebäude der Aula unter der Leitung von Robert Boog statt. Zu ihm hatten wir sofort einen guten Draht. Keinerlei spätpubertäre Spielchen, wir waren ja freiwillig da. Mit grosser Leidenschaft lernten wir die Messe in lateinischer Sprache. Das «Gloria» oder das «Sanctus» könnte ich heute noch aus dem Gedächtnis singen.

Im Übungsraum faszinierte mich aber in erster Linie der riesige, schwarz glänzende Flügel. Alan und Ed spielten darauf manchmal vor der Probe ihre Paradestücke. Alle waren wir beeindruckt und auch etwas neidisch, wie locker Ed, ein eher stiller und zurückhaltender Mitschüler, «Heinzelmännchens Wachtparade» von Kurt Noack spielte. Ernsthaften Liebhabern der klassischen Musik dürfte die Freude an diesem Stück ein müdes Lächeln entlocken.

Wir hatten keine musikalischen Vorurteile. Trotz unserer Vorliebe für Pop- und Rockmusik besuchten wir mit unseren Lehrern in der Freizeit Konzerte in der Tonhalle und liessen uns ins Opernhaus einführen. Ich erinnere mich an Konzerte mit Musik von Schönberg, an den «Fidelio», vor allem auch an den in diesen Jahren auch politisch bedeutungsvollen «Wozzeck» oder «Il Re Cervo» von Hans Werner Henze. Die Harmonien dieser Werke beeindruckten mich sehr. Ich hörte aber auch hin, wenn meine Mutter auf dem Grammophon die leichtfüssigen Operettenmelodien wie «Die verkaufte Braut» oder «Der Vogelhändler» spielte.

Verlockender Flügel Nach der Singstunde blieb ich beim Klavier stehen. Die Kollegen verliessen das Zimmer, Robert Boog packte seine Sachen. Als ich ihm im Vorbeigehen sagte, dass ich schon lange gerne Klavier spielen lernen würde, bot er an, mir ein paar Probelektionen zu erteilen. Ein paar Tage später sass ich ein erstes Mal auf dem Klavierschemel und konnte mich mit dem Instrument etwas vertraut machen.

Weil ich zu Hause kein Klavier hatte, durfte ich während der unterrichtsfreien Mittagszeit in einem der Musikzimmer üben, obschon dies nur in der Anfangsphase sinnvoll sei. Ich sollte schon schauen, dass ich bald einmal auch daheim ein Klavier zur Verfügung hätte, riet Robert Boog. Das war einfacher gesagt als getan. Wie sollte ich meinen Vater um Erlaubnis bitten? Wir sprachen schon monatelang kaum ein Wort miteinander. Eine typische Vater-Sohn-Geschichte. Wollte ich von ihm etwas erreichen, brauchte es eine kluge Strategie, gute Argumente und vor allem den richtigen Augenblick. Den glaubte ich gefunden zu haben, als der Vater eine 78er Schellack-Schallplatte mit Liedern des Don Kosaken Chors auflegte, die er selber im Männerchor der Pöstler sang. Während also gerade das «Lied der Wolgaschlepper« oder «Stenka Rasin» ertönte, erzählte ich vom Chor der Kantonsschule und dass ich bei der «Spatzenmesse» mitsingen würde. Er nickte anerkennend und schien auch wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen, dass ich ebenfalls die Bassstimme sang.

Falsche Taktik Dann machte ich den entscheidenden taktischen Fehler, zu viel auf einmal erreichen zu wollen. Statt die unausgesprochene väterliche Anerkennung still zu geniessen, erzählte ich von Robert Boog und seinem Angebot, mir Klavierstunden zu erteilen. Noch während ich sprach, spürte ich Vaters wachsende Ablehnung. Meine Bitte, ein Klavier mieten zu dürfen, kommentierte er mit der trockenen Bemerkung, ich solle doch weiterhin Gitarre spielen. Das reiche völlig.

Damit war das Thema vom Tisch, auch für Robert Boog, der klarstellte, dass ohne tägliches Üben nichts zu machen sei. Meine Trauer hielt sich in Grenzen. Ich hatte mit diesem Ausgang der Geschichte gerechnet, mich deshalb wohl auch nur halbherzig engagiert und nicht nach Alternativen gesucht.Mein Vater hatte eine schöne, kräftige Bassstimme, die mich trotz aller Differenzen sehr beeindruckte, wenn ich ihn einmal singen hörte. Viele Jahre später, längst versöhnt mit dem Vater, hatte ich beim Singen in einem Chor plötzlich das Gefühl, meine Stimme töne ähnlich wie die seine. Das war wohl nur Einbildung, aber trotzdem ein schönes Erlebnis. Das führt zur Frage, weshalb denn Singen oder Singstunden nicht schon viel früher ein Thema waren. Eigentlich naheliegend nach dem schönen Erlebnis mit dem Schülerchor. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen.

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